
Alfred Woschitz
NUR NOCH ZWĂLF TAGE
ErzÀhlung
Verlagshaus Hernals, 2024
97 Seiten
ISBN 978-3-903442-58
âErschrecke doch, du allzu sichre Seele!â
(BWV 102)
Gedanken ĂŒber das Trauern, Schweigen und VerdrĂ€ngen
Axel Karner ĂŒber die ErzĂ€hlung »Nur noch zwölf Tage« von Alfred Woschitz
âNicht darĂŒber sprechen zu könnenâ, war das Schlimmste. âSchweigen und VerdrĂ€ngen ist die erste Reaktion, irgendwann muss man aber darĂŒber, was passiert ist, reden, nur dann kann man das alles verarbeiten.âÂ
(Edda Schwarz in: Bernhard Gitschtaler, Ausgelöschte Namen S.92)
Was kann es Befreienderes geben als zu erfahren, wer man wirklich ist. Allerdings nicht allein definiert durch ein landschaftliches Woher und rĂ€umliches Beheimatet sein, sondern auch als das soziale Wesen, das man idealtypisch sein möchte und zu dem man schlieĂlich geworden zu sein glaubt. Das Wissen ĂŒber die UmstĂ€nde, die einen zu dem Menschen gemacht haben, der man ist, geht einher mit der das Bewusstsein verĂ€ndernden Frage, was auch an VerdrĂ€ngtem und Unbewussten den Menschen leitet.
Die Antwort liegt im guten Fall in einer bestÀndigen Suche danach.
In diese Haltung fĂŒgt sich die kleine, bewegende ErzĂ€hlung ĂŒber die vier Söhne der Bauernfamilie Woschitz und eines ihrer Nachkommen. Unter dem Eindruck erstickter TrĂ€nen und verstummter Schreie nimmt sich Alfred Woschitz – wie es scheint einer inneren Verpflichtung folgend, ganz im Sinne der von Alexander und Margarethe Mitscherlich beschriebenen These von der UnfĂ€higkeit unserer GroĂeltern und Eltern zu trauern – des erlittenen Leids seiner Familie an, um einen FuĂ in die TĂŒr der dunklen RĂ€ume des VerdrĂ€ngens und Vergessens zu stellen, und das Geschehene zu erhellen, sichtbar und begreifbar zu machen.
Seine Suche nach dem Menschsein folgt zwei unterschiedlichen Spuren, die schlieĂlich in einer schmerzhaften Erkenntnis zusammenfinden. Die eine erzĂ€hlt die grausame Geschichte, angetan einer Bauernfamilie durch den Wahn und Zynismus der Nationalsozialisten (âDer Krieg fordere Opfer, von jedem von uns âŠâ S.44). In die scheinbar dörfliche Idylle einer holzschnittartig gezeichneten, widerstĂ€ndigen Familie (der Vater gilt als nicht âgesinnungstreuâ, der HitlergruĂ ist verpönt, die Kinder werden zum traditionellen GrĂŒĂen angehalten) bricht mit der Zwangsrekrutierung der vier Söhne die destruktive Gewalt des Naziregimes herein und zerstört eine bisher gelebte Heimat als âvertraute Landschaft, in der Geborgenheit und trotz vieler MĂŒhsal ums tĂ€gliche Brot, [die ihr als] höchstes Gut der Welt und des Daseinsâ galt.
Die andere Spur fĂŒhrt – ob durch Zufall oder durch âhimmlisch-göttliche Regieâ – den Enkel, der den Namen seines durch das Naziregime gefallenen Onkels trĂ€gt, und nach einem schweren Erdbeben in Armenien im Auftrag des DRK, spĂ€ter des IRK ein humanitĂ€res Hilfsprojekt leitet, auf einem Inlandsflug nach Moskau, durch einem erzwungenen Aufenthalt in SĂŒdrussland zum Soldatenfriedhof von Volgorod. Unter dem monumentalen Eindruck der âRodina-mat sowjetâ wird ihm im Nachhall des Schmerzensschreis seiner GroĂmutter ĂŒber des in SĂŒdrussland verschollenen Sohnes die Tragweite des verbrecherischen Krieges bewusst und lĂ€sst ihn erkennen wie sehr die Verstrickungen unserer Vorfahren uns bis heute unbewusst beeinflussen und leiten. Wie der Schmerz ĂŒber die bleibenden Wunden und Traumata auf Seiten aller Opfer lĂ€hmt. Im Leid ĂŒber viele Generationen hinweg.
Wenn heute, fast 80 Jahre nach dem Krieg mit dem Verlust der meisten Zeitzeugen, historische AuthentizitĂ€t droht verloren zu gehen, stattdessen Relativierungen der Revisionisten die historischen Fakten ĂŒber all das Geschehene verdrehen, Opfer-/ TĂ€terumkehr wieder zum Handwerk der Rechtfertigung erfolgten Unrechts gehört, ist dies ein weiterer Versuch der Schuldabwehr, das Vergessen und VerdrĂ€ngen zur BewĂ€ltigungsstrategie zu erheben. Mit verheerenden Folgen fĂŒr die Seelenlandschaft.
Sei es nun der Drang des Lebendigen oder das Vertrauen, dass das Leben letztlich doch die Oberhand behĂ€lt, Menschen wollen und mĂŒssen das Leid, die körperliche und seelische ZerrĂŒttung weiterer Generationen, die der NS-Staat mit seiner mörderischen Ideologie ĂŒber Millionen gebracht hat, immer wieder neu ins GesprĂ€ch bringen.
Das Reden ĂŒber die Opfer, die den unmenschlichen Vorstellungen der kranken Hirne der NS-Schergen und deren feigen MitlĂ€ufern nicht entsprachen und vernichtet wurden, ist notwendig. Auch als Bekenntnis zur Verantwortung im Erkennen der Last der eigenen Stigmatisierung. Um damit aber auch dem Gerede, es mĂŒsse doch endlich ein Schlussstrich gesetzt werden, ein striktes und vehementes Nein entgegenzusetzen.
Es ist gewiss, auf dem Misthaufen der noch immer nicht aufgearbeiteten Vergangenheit gÀrt neuer unsÀglicher rechtsradikaler Mist.
Rezension: Axel Karner